Chronik der Errichtung des Silcherdenkmals 1941 und seiner Rezeption

Die posthume Ehrung Silchers als berümten Sohn der Stadt war bereits vor dem NS fest im Tübinger Kulturwesen etabliert. Es fanden jährliche Silcherfeiern und Jubiläumsfeiern statt, seit 1873 stand bereits ein erstes Silchermonument und Tübinger Museumsgesellschaft hatte in ihrem «Museum» den Festsaal als «Silcher-Saal» benannt. Ein paradigmatisches Beispiel für die Aneignung Silchers durch die Nationalsozialist*innen findet sich im Ersetzen des Silcher-Monument im Jahr 1939. Eine 5,7 Meter hohe Sandsteinfigur sollte den «zu kleinen» Obelisken ersetzen, der den Nazifunktionären obendrein «zu französisch» anmutete. Der Kreisleiter der NSDAP Hans Rauschnabel inszeniert sich im Rahmen der Grundsteinlegung des Monuments als den «besten Silcher-Kenner» und versucht mit dem massiven Aufwand zur Ehrung Silchers Legitimation für die (eher dürftig ausfallende) Kulturförderung des Regimes im Bereich Musik zu schaffen.

Arbeiten am Silcherdenkmal 1941, Screenshot übernommen aus Loistl 1991

Planung, Ausschreibung und Errichtung des Silcherdenkmals 1939-1941

26. August 1860: Friedrich Silcher stirbt in Tübingen, sein Grab befindet sich bis heute auf dem Tübinger Stadtfriedhof und ist fester Gegenstand der Tübinger Silcherpflege.

Silchers Grab auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Foto ND

1873: Das erste Silcherdenmal, ein Obelisk mit Reliefbüste Silchers, wird zu Ehren des berühmten Universitätsmusikdirektors an der Rückseite des Universitätshauptgebäudes errichtet. 1874 wird dieser in einer Feier eingeweiht. Das erste Silcherdenkmal entstand aus den Kreisen der national gesinnten Sängerbewegung heraus, der Theologe Heinrich Adolf Köstlin gilt als einer der Hauptinitiatoren, der die politische Bedeutung des Volksliedes betonte.

1928: Aufgrund baulicher Veränderungen am Universitätsgebäude wird das erste Silchermonument von dort auf die Platanenallee versetzt. An derselben Stelle befindet sich auch das zweite Silcherdenkmal.

Das erste Silcherdenkmal 1873-1939 nach seiner Versetzung hinter die neue Aula der Universität.

März 1939: Im Vorfeld der geplanten Feiern zum 150. Geburtstag des Komponisten schrieben Nazifunktionäre um den Tübinger Kreisleiter Hans Rauschnabel einen Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung und Umsetzung eines neuen Silcher-Monuments aus. Die Ausschreibung der Reichskammer der bildenden Künste wurde in verschiedenen überregionalen Zeitungen und publizistischen Organen der Küstler/innen verbreitet.

Die Tübinger Chronik berichtete am 15. Juni 1939 über den Gewinner der Ausschreibung. Der Entwurf nach Hans Koch, der eigentlich den ersten Preis erhielt (links), wurde zugunsten des dritten Platzes (Platz 2b, rechts) verworfen.

Juni 1939: Eingegangen sind 40 Entwürfe, gewonnen hat der dritte Preisträger (Platz 2b) Wilhelm Frick aus Stuttgart. Die veranschlagten Kosten des Monuments beliefen sich auf 32.000 RM, zu zahlen hatte der Schwäbische Sängerbund. Das Monument sollte zum Oktober 1940 fertiggestellt werden, es dauerte aber bis Mai 1941. Der Sockel wurde pünktlich zur Silcherfeier 1939 angeliefert, dessen Grunsteinlegung Gegenstand der hiesigen Silcherfeier war.

24. und 25. Juni 1939: Silcherfeier und Grundsteinlegung des Monuments

11. Mai 1941: Im Vorfeld wurde das bestehende Silcher-Denkmal entfernt und ein kleines Wäldchen auf der Platanenallee (sog. Seufzerwäldchen) zur Errichtung der Thingstätte abgeholzt. Um die 460 Zentner Monument (Falkensteiner Marmor) und die 900 Zentner Sockel an Ort und Stelle zu bringen, musste für den Zug, der die 13 Blöcke aus Stuttgart heranschaffte, eine Brücke auf die Platanenallee als Provisorium errichtet werden. Bei der Fertigstellung des Monuments im Mai 1941 fand kein Fest statt, noch nicht einmal die Zeitung hat darüber berichtet.

Rezeption des Silcherdenkmals in der Region seit 1941:

Rückblickend schien das zweite Silchermonument auf der Tübinger Platanenallee außer den drei Nazifunktionären, die es in Auftrag gegeben hatten, niemandem wirklich zu gefallen. Nach der pompösen Grundsteinlegung 1939 verlief die eigentliche Errichtung des Monuments 1941 im wahrsten Sinne des Worte völlig sang und klanglos. Es vergingen nur wenige Tage und schon wurden die ersten Farbanschläge auf das Denkmal verübt und seit den den 1940er Jahren wurden bereits Empfehlungen geäußert, es doch wieder abzureißen. Seither ist die Sandsteinfigur Dauerthema im Schwäbischen Tagblatt:

Mai 1942: eine Sanitätsschule der Marine aus Kiel ist aus strategischen Gründen in den evangelischen Stift gegenüber vom Monument eingezogen und etwa 700 Marineschüler bevölkern die Stadt. Die Kadetten bemalten die Silcherfigur eines Nachts im Gesicht mit roter Nase und Bart. Hans Rauschnabel ist außer sich, die Kadetten erhalten zur Strafe Stubenarrest. Die Silcherfigur wird gereinigt und der Fall in der Presse vertuscht.

1946: Die Allierten fordern die Zerstörung sämtlicher Nazi-Monumente, vor allem die militaristischen. In Tübingen sind die Französ*innen aber generell eher nachlässig mit der Entnazifizierung und niemand interessiert sich zunächst für das Silcherdenkmal. 1946 wird dann im Stadtrat die Frage geäußert, wie mit dem Monument umgegangen werden soll, immerhin war die Rechnung noch nicht bezahlt. Manche Mitglieder des Stadtrats forderten die Entfernung (OB Hartmeyer nannte es einen «Fremdkörper», laut Stadtrat Hebsacker «verschandelt das Denkmal die Platanenallee»), andere (Kulturreferent Bartels) wollten nur die Soldatenfigur entfernen, die Silcher aus dem Rücken wächst. Der Schwäbische Sängerbund reagierte nicht. Es folgen Diskussionen mit dem Künstler, verschiedenen Gesangsvereinen, dem Silcherbund und dem Silchermuseum.

1949 und 1950: weitere Fälle von Vandalismus gegen das Monument, der Schwäbische Sängerbund wünscht den Erhalt des Monuments.

Januar 1950: Im Schwäbischen Tagblatt wird ein Artikel über Denkmalräuber in Deutschland publiziert, es fällt die ironische Bemerkung, dass man darauf hofft, dass auch Silcherdenkmal gestohlen wird.

1951: Anfrage von Stadtrat bei der gewerblichen Berufsschule Tübingen nach Kunstgegenständen, sie besitzen die ursprüngliche Marmorplatte vom ersten Silcherdenkmal

1972 und 1973: Die Vereinnahmung Silchers durch die Nationalsozialist*innen wird in zwei bitterbösen Artikel in den Tübinger Blättern thematisiert und Forderung laut, das SDM niederzureißen (Müller 1972, Rieth 1973).

1982 bis 1989: sporadisch Artikel in der Lokalpresse, die Kritik am SDM äußern und dass es aus dem Stadtbild verschwinden soll (Südwestpresse).

1995: Auf Initiative der Tübinger Geschichtswerkstatt wird am Silcherdenkmal eine Informationsplakette angebracht, die erstmals die ideologische Handschrift thematisiert, die in dem Monument materialisiert ist.

2001: bitterböser TAZ-Artikel über Silcherdenkmal

2007: auf Ebay wird eine Miniatur (Fotografie des Modellentwurfs) des Silcherdenkmal ersteigert (ca. 100 €) und ins Tübinger Stadtmuseum aufgenommen.

2008: eine Gruppe junger Frauen verhüllt im Rahmen eines Kunstprojekts in einer Aktion das Monument mit Verpackungsmaterial. Das Material wird gestohlen.

2010 bis 2016: mehrere kritische Artikel im Schwäbisches Tagblatt.

2016: Das Silcherdenkmal wurde mit einer Informationstafel (Stele) der lokalen Geschichtswerkstatt versehen, die über die Aneignung des Komponisten Silchers durch lokale Nazi-Funktionäre thematisiert und eine erste, kleinere Informationstafel aus dem Jahre 1995 ersetzte. Die Stele ist Teil des Projektes „Tübinger Geschichtspfad zum Nationalsozialismus“ mit insgesamt 16 Orten in der Stadt, der interaktive Stadttouren ermöglicht.

2016: lobender Artikel im Deutschen Ärzteblatt über das Silchermonument.

2017 bis heute: nicht abreißende Diskussion im Schwäbischen Tagblatt und der Lokalpresse (Artikel und v.a. Leser*innen-Briefe), die über Erhalt und Abriss des Monuments streiten. Insbesondere die Statue der Badenixe, ein umstrittenes Geschenk an die Stadt, die auf der Platanenallee errichtet werden sollte, heizte die Kontroverse in der Bevölkerung an. Der Diskurs verlagert sich zudem in die digitale Sphäre: Etwa auf des Oberbürgermeisters Boris Palmers Facebookseite und deren Kommentarspalten; auf Tripadvisor und Google Maps wird das Monument negativ bewertet.

5. Januar 2020: Umwidmung des Silcherdenkmals durch das Zürcher Theater- und Perfomancekollektiv Neue Dringlichkeit in „Mahnmal gegen die Vereinnahmung der Künste durch rassistische und nationalistische Kräfte“.

Quellen:

Loistl, Alexander (1992): Die Silcher-Pflege in Tübingen zwischen 1933 und 1945. In: Benigna Schönhagen (Hg.): Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen. Tübingen (Tübinger Kataloge, 36), S. 171–178.


Müller, Christoph (1972): Ohne Reibungsverluste. Zur Entstehungsgeschichte der 59. Tübinger Blätter 59.


Rieth, Gustav Adolf (1972): Das Attentat. Das Silcher-Denkmal und warum es immer noch steht. In: Tübinger Blätter, S. 65–71.


Schmid, Hermann M. (Hg.) (1989): Friedrich Silcher, Studien zu Leben und Nachleben. Stuttgart: Theiss.


Taigel, Annette (1989): Die Tübinger Silcherdenkmäler 1874 – 1941. In: Hermann M. Schmid (Hg.): Friedrich Silcher, Studien zu Leben und Nachleben. Stuttgart: Theiss, 139-155.


Taigel, Annette (1997): DES MEISTERS DER TÖNE IN EHREN GEDENKEN. Die Geschichte der Denkmäler für Friedrich Silcher in Tübingen. In: Nägele und Schuetze (Hg.): Musik in Baden-Württemberg. Berlin, Heidelberg: Metzler Musik, Springer-Verlag (4), S. 203–207.

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